Gedanken zu Jeremia 20, 7-13, 2. Kor 4, 8-10 und 12, 9 // W. Neusel 23.03.2025 im Partnerschafts-Gottesdienst am Sonntag Okuli in der Ev. Kgde Oberwinter

Lesung von Jeremia 20, 7-13: Je öfter ich den Text gelesen habe, umso verstörter wurde ich. Dieser verzweifelte Ausbruch eines Dieners Gottes findet sich in keiner anderen heiligen Schrift weltweit. Und auch in der Bibel ist diese brutale Art der Auseinandersetzung mit Gott und der Welt einzigartig. Was ist das auch für ein Auftrag, immer wieder als Einzelner da zu stehen und Unheil und Verderben anzukündigen?! Ja, die Verhältnisse, in die Jeremia hinein gesprochen und geschrien hat, sind unerträglich. Es war nicht lange her, dass der König der Herzen, Josia, im Zusammenhang mit der Restaurierung des Jerusalemer Tempels eine umfassende Reform des religiösen wie des sozialen Lebens durchsetzte (622/1 v.Chr). Er entsprach dem (in Deut 17, 14-20 vorgezeichneten) Idealbild, d.h., der engen Zusammenarbeit von König, Priester und Prophet. Eine gute Zeit für Juda für fast zwei Jahrzehnte. Der Tempel in Jerusalem wurde alleiniger Kultort, und der Gott Israels allein wurde dort verehrt (Monolatrie). Im Tempel wurden alte biblische Handschriften gefunden. Soziale Reformen gingen damit einher. Doch dann kam Jojakim, der unter der Herrschaft Ägyptens und dann Babylons tributpflichtig wurde und das Volk mit Steuern ausquetschte. Sein Lebenswandel wurde scharf kritisiert. Weil er nach drei Jahren die Tributzahlungen beendete, sandte Gott „ die Räuberscharen der Chaldäer, der Aramäer, der Moabiter und Ammoniter gegen ihn.“ (2.Chronik 36)

Jeremia predigte, man solle sich dem babylonischen Imperium unterwerfen, aber die national-religiöse und politische Elite Jerusalems klagte Jeremia wegen Hochverrats an. Durch eine Intervention, dass schon der Prophet Micha ein Jahrhundert zuvor dieselbe Botschaft verkündet hatte, kam er mit dem Leben davon. Auch die Prophetin Hulda und der Prophet Zephanja verkündeten den Untergang Judas. Der Prophet Uria, der zur gleichen Zeit wirkte und kommendes Verderben Judas verkündete, wurde nach einer vergeblichen Flucht nach Ägypten in Jerusalem zum Tode verurteilt.

Jeremia erlebt den religiösen Betrieb in wüster Vermischung mit religiösen Praktiken von Nachbarvölkern, auf zahlreichen Kult-Höhen, bis hin zur Kult-Prostitution und dem Verbrennen von Kindern. Er prangert Ehebruch, Meineid, Gleichgültigkeit gegenüber Fremden, Witwen, Waisen und Hochbetagten an. Jer 5, 28f: „Das Recht haben sie nicht durchgesetzt, das Recht der Waise haben sie nicht zum Erfolg geführt, und den Rechtsanspruch der Armen (Bürgergeld!) haben sie nicht eingelöst. Sollte ich dies nicht ahnden, Spruch des HERRN, mich nicht rächen an einer Nation wie dieser?“ In Jeremia 6, 13f heißt es: „Denn von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten sind sie alle nur hinter Gewinn her, und vom Propheten bis zum Priester sind sie alle Betrüger. Und nur scheinbar geheilt haben sie den Zusammenbruch meines Volkes, als sie sagten: Friede! Friede! Doch da ist kein Friede.“

Wir verstehen den Grund der Anklage: Nach der Befreiung aus Ägypten, nach der Bewahrung Israels in der Wüstenzeit, nach der erfolgreichen Landnahme gegen manchen Widerstand der Nachbarvölker haben sich sowohl das Nordreich Israel (926 v.Chr. vom Südreich getrennt) wie das kleine Südreich Juda im regen kulturellen und religiösen Austausch den Nachbarvölkern angepasst. Auch die egalitären sozialen Weisungen der Tora sind in Vergessenheit geraten. Es ist so, als würden wir das Grundgesetz gegen Trumps gesellschaftliche und soziale Vorstellungen eintauschen. Sozialgeschichtlich entdecke ich durchaus Verwandtschaften mit unserer Gegenwart: Vom Wir zum Ich! Mit allen bösen Konsequenzen. Und was das politische Koalitionsgewurschtel der Könige Judas, das Lavieren zwischen den Großmächten Ägypten und Babylon ende des 7. Jh.v.Chr. bis zur endgültigen Verbannung Judas 586 nach Babylon anging, sehe ich durchaus Parallelen zur gegenwärtigen europäischen Situation.

Jeremia bringt den Aufschrei der verratenen Liebe Gottes unter die Leute. Aber die Brutalität der Gerichts- und Vergeltungsphantasien, ja, der Vernichtungs-Tiraden, die aus dem Mund des Propheten kommen, Tag für Tag, immer wieder aufs Neue, erschrickt mich. Ist das der Gott, an den wir glauben?

Ich verstehe auch nicht, dass die Prophetin Hulda und die Propheten dieser Zeit alle als Einzelkämpfer auftreten und als Einzelne die ganze Wucht der Reaktionen

auf ihre Anklage aushalten müssen. Zu Beginn unseres Kapitels wird vom Oberaufseher des Tempels Paschhur berichtet, der nach Jeremias Unheilsverkündung im Tempelbezirk den Propheten für einen Tag in den Block legen ließ. Das ist Folter par excellence. Aber kaum ist Jeremia wieder frei, lässt er eine Unheilstirade gegen   Paschhur ganz persönlich los. Koste es, was es wolle.

Wir könnten sagen:„ So war das früher. Damals herrschten eben ein anderer Ton.“

Aber wir hören und lesen, dass Jeremia an der Brutalität der Gegensätze zerbricht.

Er ist, wie gesagt, ein Einzelkämpfer, isoliert von allen um ihn herum. Und er hatte doch schon bei seiner Berufung Gott deutlich genug entgegnet: „Ach, Herr, sieh, ich weiß nicht, wie man redet, ich bin ja noch jung! (Jer 1,6f)“  Die Antwort Gottes klingt für mich befremdlich autoritär: „Sag nicht, ich bin noch jung. Wohin ich dich auch sende, dahin wirst du gehen, und was immer ich dir gebiete, das wirst du sagen.“

Und jetzt hören wir, wie es voller Qual aus ihm herausbricht. „Du hast mich überredet, und ich habe es zugelassen.“ Genauer gesagt, werden im Hebräischen die Worte für sexuellen Missbrauch benutzt. „Ja, du bist stärker als ich, hast gewonnen, aber ich bin der Lächerlichkeit preisgegeben. Doch wenn ich mich vor dir schützen will, Abstand gewinnen, brenne ich innerlich. Es geht mir durch Mark und Bein. Ich komme nicht von dir los. Sogar die, die mit mir in Frieden lebten, sind jetzt auf der Lauer, um Rache zu üben am prophetischen Nestbeschmutzer.“

Ich halte kaum für wahrscheinlich, dass die folgenden Verse zeitlich direkt ans Klagegebet Jeremias anschließen. Das Lob Gottes wird in Jeremia wohl nach geraumer Zeit aus seinem Innersten gekommen sein. Er, der Gerechte, wird rehabilitiert, und Gott, der „mächtige Held“, wird sein Urteil an den Verfolgern des Propheten vollstrecken. Schimpf und Schande über die Übeltäter! Und Jeremia darf Gottes Vergeltung miterleben. Das Recht, die Verwerflichkeit des Gebarens in Juda zu ahnden, steht außer Zweilfel.

Aber ich gestehe, der Text macht mich ratlos, ja auch unwirsch. Jetzt mögen Einige von Ihnen und Euch sagen: Das war einmal. Gut dass wir keine ProphetInnen sind.

Aber in unserer Kirchenordnung steht im 1. Grundartikel: „Sie (die Kirche) ist gegründet auf das prophetische und apostolische Zeugnis der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments.“ Wir kennen die prophetischen Texte über das Ende der Tage in den Evangelien und in der Offenbarung des Johannes. Ganz unübersehbar lesen wir vom prophetischen Auftrag in den apostolischen Briefen. Ausdrücklich heißt es in den Ermahnungen des Paulus im 1. Brief an die Thessalonicher: „Den Geist bringt nicht zum Erlöschen! Prophetische Rede verachtet nicht! (5, 19f)“

Im 2. Kapitel ist von der Bedrängnis der Gemeinde die Rede, von der Feindschaft der Juden: „Diese haben den Herrn Jesus getötet und die Propheten, sie haben uns verfolgt, …weil sie uns daran hindern, den Völkern das Wort zu verkündigen. (2, 14-16)“. Im 1. Brief an die Korinther schreibt Paulus: „Ihr seid der Leib Christi, als einzelne aber Glieder. Und als solche hat euch Gott in der Gemeinde zum einen als Apostel eingesetzt, zum andern als Propheten, zum dritten als Lehrer. (12, 27f)“  Im Hebräerbrief (4, 12) wird das Wort Gottes als „wirksam  und schärfer als jedes zweischneidige Schwert“ charakterisiert. Es geht durch Mark und Bein und dringt in die geheimsten Regungen des Herzens. Die Botschaft vom Leidensweg Jesu Christi scheidet in besonderer Weise die Geister. Religiöse Sehnsucht wünscht sich gern die heile Welt, und zwar sofort.

Wir wissen von der Not des Paulus in den Auseinandersetzungen mit korinthischen Gläubigen, die meinten, dass Paulus als Bote des Gekreuzigten kein glaubwürdiger Botschafter sei. Diese Protagonisten eines Wolkenkuckucksheim-Christentums konnten in der Schwachheit des Apostels nicht die authentische Repräsentation Jesu Christi erkennen.

Aber: Paulus ist nicht allein. Er arbeitet im Team! So auch die anderen Apostel und Apostellinnen. Sie haben Gemeinden gegründet, die bei allen internen Differenzen den Widerstand von Gegnern der messianischen Gemeinschaften gemeinsam aushalten. Wo Irrlehrer auftraten, setzten sie sich gemeinschaftlich auseinander.

So kann Paulus dann im 2. Korintherbrief schreiben, was mir ein Pfarrer aus unserem philippinischen Partnerkirchenkreis Agusan in der Auseinandersetzung unserer Geschwister mit dem Diktator Duterte ins Herz schrieb: „In allem sind wir bedrängt, aber nicht in die Enge getrieben, ratlos, aber nicht verzweifelt, verfolgt, aber nicht verlassen, zu Boden geworfen, aber nicht am Boden zerstört. Allezeit tragen wir das Sterben Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben  an unserem Leib offenbar werde. (2 Kor 4, 8-10)“ Als Paulus in einer beseligenden Vision ins Paradies entrückt wurde, attackiert ihn ein Satansengel, der ihm einen Stachel ins Fleisch gibt. Paulus bittet Gott drei Mal um Befreiung von der Qual. Und dann hört er von Gott: „Du hast genug an meiner Gnade, denn die Kraft findet ihre Vollendung am Ort der Schwachheit…. Darum freue ich mich über alle Schwachheit, Misshandlung, Not, Verfolgung und Bedrängnis, um Christi willen. Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark. (2.Kor 12,9ff)“  Paulus weiß: ich bin nicht allen. Er geht mit Gott und den Vielen, die mit ihm auf dem Weg sind. Die Wut des Widerstands gegen die Botschaft vom Gekreuzigten und Auferstandenen ist nur ein Zeichen für die Kraft der Herausforderung dieser Botschaft.

G: Lied: Meine Hoffnung und meine Freude…

Ja, so ist es mit unseren Geschwistern im Partnerkirchenkreis Agusan. Die Freude des gemeinsamen Lebens mit Gott, wie er ihnen in der Kraft seines Heiligen Geistes nahe kommt, macht sensibel für Unrecht und Gewalt, für die tägliche Sorge der kleinen Leute um Nahrung und ein sicheres Zuhause, auch dann, wenn eine Suppenküche für Vertriebene als kommunistische Propaganda gebranntmarkt wird. Die Freude des Lebens in der Nachfolge Jesu Christi ermutigt zur Hilfe bei Krankheit und Tod, sorgt für Beistand im Kampf gegen die Verwüstung der Natur und der Heimat durch Nahrungsmittel- und Bergbaukonzerne und befähigt zum beharrlichen Eintreten für die zu Unrecht Inhaftierten und Verurteilten. Das Geheimnis: Die enge Gemeinschaft schenkt Energie und Hoffnung im Widerstand gegen staatliche und wirtschaftliche Gewalt. Sie wird genährt und beflügelt durch herrlich lebendige Gottesdienste, mit beschwingter Musik und inspirierendem Beisammensein. Ich hoffe und bete, dass wir auch solch eine Gemeinschaft werden und bleiben, damit wir offene Augen, Ohren und Herzen für die Menschen hier vor Ort wie auch in der weltweiten Ökumene haben und stark werden gegen Resignation und Gleichgültigkeit. Wir sind kein frommer Club, sondern Teil der weltweiten Gemeinde Jesu Christi im Widerstand gegen arrogante Macht und in der Sorge für die an den Rand der Aufmerksamkeit Gedrängten. Amen